Im Kanton Bern
Nur widerwillig schlage ich die Augen auf. Es ist Sonntagmorgen und es regnet in Strömen. Die Welt ist in ein trübes Halbdunkel getaucht und Windböen rütteln an meinem Schlafzimmer. Am liebsten würde ich mich umdrehen und weiterschlafen, aber dafür fehlen mir die Vorräte. Bis heute Abend wären wir verhungert, Pieps und ich.
Ich ziehe die Motorradsachen an und öffne den Außenreißverschluss. Draußen bietet sich ein dramatisches Bild. Ich schieße ein Foto und bin überrascht, als der automatische Blitz gleich losfeuert. Wegen solcher Tage habe ich mir die wasserdichte Kamera gekauft.
Gegen diese weinerlichen Momente habe ich eine besondere Technik entwickelt: Ich erinnere mich an die schlimmsten Momente in meinem Leben, an Unfälle, Operationen, Schmerz und Verlust. Und alles was mir heute bevorsteht ist, ein Zelt im Regen abzubauen und ein wenig Motorrad zu fahren? Das ist schon alles?
Das ist gar nichts, Baby. Das mach ich im Dunkeln mit einer Hand hinter dem Rücken und pfeife noch La Paloma dabei.
Diese Technik funktioniert immer. Voller Energie stürze ich mich in die Aufgabe, das Lager abzubrechen und die Enduro startbereit zu machen. Keine halbe Stunde später rolle ich bereits vom Campingplatz. Warm und beinahe trocken sitze ich in meinem Kokon aus Motorradsachen und Regenkombi. Jetzt ist mir das Wetter egal.
In Martigny fahre ich unter das schützende Dach einer SHELL-Tankstelle, tanke ein paar Liter nach und gehe in den Verkaufsraum zum Frühstücken. In meiner orangen Regenkombi mit der Ente auf dem Rücken stehe ich tropfnass an einem der Stehtische, trinke heißen Kaffee und esse Croissants dazu.
Hinter Martigny lässt der Regen nach und als die Straßen abgetrocknet sind, fahre ich an eine Bushaltestelle und ziehe die Regenkombi aus. Ich rolle sie zusammen und klemme das orange Bündel unter die Gepäckgummis.
Ich stelle das Motorrad ab und schlendere über den Markt. Kaum ein Dutzend Verkäufer hat sich an diesem verregneten Sonntagmorgen auf dem Pass eingefunden. Es sind nur drei Privatanbieter darunter, die ein paar Kinderbücher, Schuhe, CDs und eine nagelneue Nudelmaschine auf ihren Tapetentischen arrangiert haben. Die anderen Verkäufer sind die üblichen Profis, abgebrühte Typen, die mit ihrem Ramsch von Ort zu Ort ziehen.
Ich erstehe zwei kleine Ziegenkäse, die ich heute Abend zum Rotwein genießen möchte. Ein letztes Mal schlendere ich zwischen den Buden hindurch, bevor ich mich wieder aufs Motorrad setze und weiterfahre.
Beides ist ausgezeichnet und das sollte es auch sein, denn auf dem kleinen Zettel, den die Bedienung unter den Zuckerstreuer geklemmt hat, werden 13,20 € dafür aufgerufen.
Von Saanen fahre ich weiter in Richtung Interlaken. Bei der Planung zuhause war es gar nicht so einfach, in dieser Gegend einen Campingplatz zu finden, aber es gibt einen am Thunersee und bis dorthin ist es jetzt nicht mehr weit.
Ich ziehe das nasse Zelt aus seinem Beutel und lege alle Teile ausgebreitet in die Sonne und auch der Schlafsack kann etwas frische Luft vertragen. Mit der Flasche Bier setze ich mich in den Schatten und sehe dem Zelt beim Trocknen zu.
Bevor ich mir eine weitere Flasche Bier aus dem Kühlschrank der Rezeption organisiere, stelle ich das Zelt auf. Als alles eingeräumt ist, spanne ich eine Wäscheleine zum Motorrad und hänge das Snoopynachthemd und das Handtuch zum Tocken in den Wind.
Ich muss richtig eingeschlafen sein, denn als ich die Augen wieder aufschlage, fehlt mir eine komplette Stunde. Ich schnappe mir mein Handy und das Ladegerät mit den Akkus fürs GPS und wandere mit Pieps hinüber zum Waschhaus.
Die Facilities sind perfekt: Sauber, modern und großzügig angelegt. Es gibt genügend Kleiderhaken, heißes Wasser und jede Menge Steckdosen. Guerilla Charging: Ich belege mehrere Steckdosen für meine Digitalkamera, das Handy und die Akkus des GPS. Ich lasse alles dort und gehe zurück zum Zelt.
Ich habe keine Angst, dass etwas wegkommt, denn ich glaube nicht, dass mein Samsung Billighandy hier jemanden in Versuchung führen kann. Die besitzen alle bereits das neueste und beste Apple iPhone.
Allerdings habe ich meinen Kram auch in Polen, Tschechien und allen anderen Reiseländern allein zurückgelassen und bis auf eine Haarbürste, ausgerechnet die von Mason Pearson, ist mir noch nie etwas weggekommen. Geklaut? Nein, in einem Waschhaus in Irland liegen gelassen, ich Töffel.
Gegen Abend, als sämtliche Akkus wieder geladen in ihren Geräten stecken, baue ich die Küche auf. Heute wollen Pieps und ich ein original Schweizer Raclette machen. Ich gebe einen Tropfen Öl in die Pfanne und lege ein Stück Käse hinein.
Der fette Käse beginnt im Nu zu schmelzen und verbreitet dabei einen äußerst appetitlichen Duft. In der Zwischenzeit schneide ich die Hirschsalami aus Sedrun auf. Vorsichtig nehme ich einen Bissen heißen Käse und dazu einen Schluck Rotwein.
Am Ende bleibt nichts zurück, als ein schmutziger Teller und eine verkrustete Pfanne. Es ist unglaublich, wie satt auch veganes Essen macht. Das hatte ich bisher jedesmal vehement bestritten, wenn auf einer Party zufällig das Gespräch darauf kam.
Ich habe mich geirrt. Heute habe ich das gewohnte Entrecote keinen Augenblick vermisst. Vielleicht sollten Pieps und ich tatsächlich ein, oder zwei vegane Tage pro Woche einlegen. Wenn es so gut schmeckt?
zum nächsten Tag...
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