Auf nach Geiranger
Puh, ist mir warm. Ein Blick aufs Thermometer zeigt 11° im Zelt und dafür ist der dicke Winterschlafsack viel zu warm. Ich ziehe mich an, schnappe meine Waschsachen und stecke den Kopf aus dem Zelt. Die Wolken hängen tief, heute könnte es Regen geben.
Das Waschhaus auf Kjørnes Camping ist absolute Spitzenklasse, eines der Besten, die ich je gesehen habe. Nagelneu, mit großen Einzelwaschkabinen, die sogar beheizt sind und auch sonst jeden Komfort bieten. So kann der Tag beginnen.Aber zuerst habe ich ein anderes Ziel. In Urnes steht die älteste Stabkirche der Welt. Sie ist über 900 Jahre alt und gehört zum UNESCO Weltkulturerbe. Die Schnitzereien am Nordportal stammen noch von Wicki und seinen Jungs.
Unter tief hängenden Wolken liegt die Oberfläche des Fjords so ruhig, dass sich die Landschaft im glasklaren Wasser spiegelt. Ein atemberaubender Anblick und ich halte mehrmals an, um immer wieder andere Ansichten zu fotografieren.
Noch während ich die Landkarte studiere, um eine andere Route zu suchen, hält ein Auto mit norwegischem Kennzeichen hinter mir. Der Fahrer stellt den Motor ab, holt eine Tageszeitung hervor und wartet geduldig auf die Ankunft der Fähre. Gut, dann werde ich das auch tun.
Autofahrer müssen ihre Wagen schon vorher wenden und rückwärts die hölzerne Rampe hinunter aufs Schiff fahren.
Ein Ehepaar mit Wohnmobil lässt den Campingwagen auf dem Parkplatz stehen und kommt zu Fuß an Bord, um die Kirche in Ornes zu besichtigen. Mit dem Wohnmobil gehen Fähren nämlich richtig ins Geld. Die magische Grenze zwischen nur teuer und blankem Straßenraub liegt bei 6 m Länge.
Das Wohnmobil ist zwar nur 5,85 m lang, aber sie haben zwei Fahrräder hinten dran und dadurch wird es länger als 6 m.
"Durch die höheren Fährkosten hab ich die Räder auf dieser Reise schon zweimal bezahlt," knurrt der Mann ungehalten.
Ich unterhalte mich sehr nett mit den Beiden, während das alte Schiff mit dem typischen Guffel, Guffel eines alten Schiffsdiesels über den Fjord tuckert. Schon bald taucht in der Ferne Ornes auf und die ersten Häuser sind zu erkennen.
Angestrengt schauen wir zu dem Dorf hinüber und versuchen die Stabkirche zu entdecken. "Da ist sie! Das schwarze Dreieck ganz oben auf dem Hügel," sagt der Mann, der sie als Erster entdeckt hat und tatsächlich, jetzt sehe ich sie auch. Klein sieht sie aus.
Die Stabkirche Urnes wirkt nicht so fremd und exotisch wie die in Borgund und ist auch nicht ganz so schön, aber diese ist noch älter. Sie gilt als älteste Stabkirche der Welt und ist um das Jahr 1100 herum gebaut worden. Berühmt ist sie auch für die Schnitzkunst am Seitenportal.
Es ist ein schöner Junitag, warm und sonnig, nur einige Schmetterlinge schweben um mich herum. Ich versuche mir vorzustellen, wie es hier vor 900 Jahren gewesen ist. Was würde ich sehen, wenn ich an einem Sommertag des Jahres 1100 hier stehen würde?
Für einen Moment habe ich eine verrückte Idee für einen ganz anderen Reisebericht, in dem mir genau das geschieht. In dem Svenja - ZACK - in der Zeit zurückversetzt wird und in ihren Motorradsachen im Urnes des Jahres 1100 steht. Meine Kamera, mein Geld und mein Messer, mehr hätte ich nicht bei mir.
Ich spinne den Gedanken noch etwas weiter bis zu der Stelle, an der die Leute auf mich aufmerksam werden und sich über die hochgewachsene Fremde in ihrer merkwürdigen Kleidung wundern, als ich die Stimmen der übrigen Fährpassagiere höre, die jetzt den steilen Anstieg geschafft haben. Zeit für mich weiterzureisen
Im dritten Gang fahre ich wieder hinunter zum Fjord, aber schon bald schalte ich zurück in den Zweiten, weil ich sonst dauernd auf der Bremse stehe, so steil ist die Straße. Ich gratuliere mir stumm zu meinem Entschluss, nicht gelaufen zu sein.
Serpentine um Serpentine schraubt sich die Straße höher ins Gebirge und nach wenigen Kilometern sind die ersten Schneefelder zu sehen. Auf dem Sognefjell ist es kalt und der Schnee reicht bis an die Straße heran.
Kurz darauf bin ich im Leirdalen, wo die Straße zwischen meterhohen Wänden aus Schnee herausgefräst worden ist. Die Baumgrenze liegt schon weit unter mir und plötzlich fahre ich durch dichten Nebel. Das sind Wolken, wird mir plötzlich klar!
Die Fahrt über Jotunheimen ist aufregend, spannend und abenteuerlich. Ich bin ganz da, ganz wach, ganz aufmerksam und merke kaum, wie kalt mir ist, bis ich die Kamera bedienen will und mit zitternden Händen die Knöpfe kaum treffe. Trotzdem würde ich mit keinem Liegestuhl in der Karibik tauschen wollen.
Und eine andere Erinnerung wird in mir wach, damals habe ich ein unglaublich knuspriges Grillhähnchen gegessen, das habe ich an der heißen Theke im Supermarkt gekauft.
Mit vollem Tank fahre ich von der ESSO hinunter, durch den Kreisverkehr und lenke das Motorrad vor den Eingang des CoOp Mega Marktes. Wie von selbst finden meine Beine den Weg hinein. Ich greife mir einen der blauen Einkaufskörbe und stiefele zielstrebig dem Geruch frisch gebratener Hähnchen nach. Tatsächlich, da ist sie, "meine" heiße Theke.
"One Roast Chicken, please," sage ich zu der Verkäuferin und mit einer langen Fleischgabel steckt sie eines der heißen Knusperhähnchen in eine Papiertüte.
Aus der Fleischabteilung besorge ich mir drei Schweinekoteletts mit besonders schönen Fetträndern, dazu eine Flasche Wasser, einen Schokoriegel und zuletzt ein kleines Brötchen, obwohl ich nicht sicher bin, wer soviel Brot essen soll.
Auf einer Bank vor dem Supermarkt sitzen drei sehr alte Herren, ihre Krückstöcke vor sich gestellt, und sehen mir ebenso fasziniert wie fassungslos zu. Entschuldigt Jungs, ich kann nicht anders.
Die Hähnchenknochen stecke ich zurück in die Papiertüte und wische mir mit der beigelegten Papierserviette das Fett von den Händen. Sofort bleibt der dünne Zellstoff an den Fingern kleben und bildet diese typische Wienerwaldschicht aus Hähnchenfett und zerrissener Papierserviette. Irgendwie mag ich das.
Jetzt sollte ich keine Zeit mehr verlieren, denn es ist schon 17 Uhr und ich habe noch ein echtes Highlight vor mir, die Fahrt auf den Dalsnibba. Dieser 1500 m hohe Berg ist nur über eine geschotterte Serpentinenstraße zu erreichen, die als Sackgasse hinauf bis auf den Gipfel führt, wo es eine Aussichtsplattform gibt. Vor Jahren bin ich dort schon einmal mit meiner KTM hochgefahren und hatte einen tollen Ausblick hinunter auf den Geiranger Fjord.
Wie gut, dass ich in meinem Outdoor Laden in Kiel noch diese Thermowäsche aus Merinowolle gekauft habe. Dumm nur, dass die hinten in der Gepäckrolle liegt, weil ich heute morgen noch dachte, die brauche ich nicht. Andererseits habe ich auf diese Weise noch ein Ass im Ärmel, falls es noch kälter werden sollte.
Die Straße verschwindet im dichten Nebel, oder sind das schon tiefhängende Wolken? Ich weiß es nicht, aber es wird kalt und immer kälter. Nach sieben Kilometern erreiche ich eine große Berghütte, Djupvasshytta. Hier zweigt die Piste ab, die hoch auf den Dalsnibba führt.
Was ist das? Nach wenigen Metern endet die Straße an einer Mautstation mit automatischen Schranken. 100 Kronen kostet es, die Piste zu befahren, das sind knapp 13 Euro. Beschwere sich noch einer über unsere deutsche Kurtaxe.
Hinter einer Kurve geht der Asphalt ganz plötzlich in Schotter über. Yippieh, das alte Pikes Peak Feeling ist wieder da. Der Untergrund ist tückisch, mal ist er recht fest, dann wieder eine Wellblechpiste, die einem die Plomben herausschüttelt und dann wieder feiner loser Gravel. Vorsichtig lenke ich die beladene Enduro den Berg hinauf.
Als ich starte und zurückfahren will, habe ich einige Mühe, die Ausfahrt vom Parkplatz zu finden. Vorsichtig tastend fahre ich am äußeren Rand des Platzes entlang, bis ich endlich auf die Piste treffe, über die ich hergekommen bin. Nach 45 Minuten erreiche ich wieder die Mautstation. Alle Schranken sind geschlossen und die Station liegt verlassen. Die Crew aus der Zahlstation hat sich einfach verdrückt und mich auf dem Dalsnibba zurückgelassen. Zum Glück kann ich mich mit Greeny neben den Schranken hindurchquetschen und bin kurz darauf wieder auf der Rv63.
Es ist 21 Uhr als ich wieder zu mir komme. Meine Güte, habe ich tief geschlafen. Während ich alle meine Sinne wieder hochfahre, rieche ich den unverwechselbaren Geruch eines Lagerfeuers. Bei dem Wetter? Denn der Regen prasselt noch immer aufs Zelt. Ich ziehe mich an und stecke den Kopf aus dem Zelt, um zu sehen, wo der Geruch herkommt.
Das Camp liegt am Fuß einer Felswand und unter einem Überhang entdecke ich eine Feuerstelle, in der noch die Reste eines Lagerfeuers schwelen. Weit und breit ist niemand zu sehen und das Feuer ist schon fast aus. Im Schutz des Felsens liegt etwas trockenes Holz und vorsichtig lege ich ein paar Späne auf die heiße Asche und fange behutsam an zu pusten.
Nach kurzer Zeit schlagen die ersten Flammen aus der Glut und ich lege einen großen Ast aufs Feuer. Yippieh, endlich Lagerfeuer. Komm, Pieps, wir holen unsere Grillsachen und verkohlen die Koteletts.
Bis weit nach Mitternacht halten Pieps und ich am Feuer unter dem Felsen aus, essen, trinken und stochern mit einem Ast in der Glut herum. Welch ein unglaublich schöner Urlaubstag das war, denke ich, als ich durch den Regen zurück zum Zelt gehe und mich allmählich fertig mache für die Nacht. Morgen fahren wir auf den Trollstigen, mal sehen was uns dort erwartet...
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War das nicht ein toller Urlaubstag? Die dramatische Wildnis und die Einsamkeit Norwegens begeistern mich, auch wenn ich heute aus der Regenkombi nicht herausgekommen bin.